Füssener Heimatzeitung Nr. 191

151 Füssener Heimatzeitung Nr. 191 vom Juni 2020 / II Mut nahm ich zusammen, um nicht wieder schnellstens fortzu- laufen, als plötzlich der Geistliche vor mir stand und ich die Bitte stammelte, er möge mir doch noch einiges über den König er- zählen. ,Na Gretl, setz dich mal her zu mir’ begann Hochwürden ,dann will ich es dir genau be- richten, du kleine Neugierige.’” Ludwig schlug einen Seitenpfad ein Der Pfarrer erzählte Gretl: „Wie ich später von einem Diener des Königs erfahren konnte, hatte dieser am Spätnachmittag des Karfreitags sein Schloß Neu- schwanstein verlassen. Am Fuße des Schloßberges angekommen, schlug er einen Wiesenpfad ein, der ihn bald - ohne dass er die Stadt Füssen selbst betretenmuß- te - an den Kalvarienberg, der etwas außerhalb gelegen ist, brachte. Ich befand mich gerade am Fuße des Berges zusammen mit einigen Gläubigen, als ich den König kommen sah. Wir wa- ren die einzigen zu dieser Nach- mittagsstunde, da zu dieser Zeit gerade Gottesdienste in den Kir- chen abgehalten wurden. Als Lud- wig uns sah, nahm er seinen Hut von seinemwallenden Haar, nick- te, und ging an uns vorbei. Ich bemerkte, daß der König einen Seitenweg einschlug, um offen- sichtlich allein mit sich sein zu können.” Ein von Schmerz gezeichneter Blick „Plötzlich, als ich zu einer nächs- ten Station kam, sah ich den Kö- nig mit tiefster Andacht im Gebet versunken. Sofort blieb ich ste- hen, denn ich fühlte, dieser Mann besaß mehr Gläubigkeit als man- che noch so eifrigen Kirchenbe- sucher. Als ich mich wieder etwas zurückziehen wollte, mußte ich Zeuge eines für mich unvergess- lichen Vorganges sein, den ich nur dir erzählen möchte, weil ich merke, daß dich nicht Neugierde, sondern Mitgefühl für unseren König zu mir gehen ließ. Bevor der Monarch sich der Station wie- der abwandte, erhob er sein Ge- sicht zumwolkenverdeckten Him- mel. Lange verharrte ein verzwei- felter, von Traurigkeit und Schmerz gezeichneter Blick in der Richtung, in der er Gott zu suchen schien. Dann strich er sich mit der rechten Hand übers Gesicht, um seine Tränen zu ver- bergen.“ Margarete L. aus Füssen ergänzt. „Wenige Wochen später hielt derselbe Geistliche die Trau- errede auf unseren inzwischen verstorbenen Monarchen.” ■

RkJQdWJsaXNoZXIy NDYxMw==