Füssener Heimatzeitung Nr. 193

32 Füssener Heimatzeitung Nr. 193 vom August 2020 die Kunstschätze zeigen konnte. Die zweite Italienreise konnte al- lerdings nicht mehr an die erste anknüpfen. Goethe sah nicht die klassischen Ideale Italiens, son- dern empfand zuerst nur Abnei- gung gegenüber dem Schmutz und der Unordnung, die durch das öffentliche Leben der Men- schen entstanden. Goethe findet das Idealbild seines von 1786 bis 1788 erlebten Italiens nicht mehr, das Italien, das er liebte und nur unter „Schmerzen ver- ließ“. Aber er findet wieder zu sich, sprengt seine eigenen Gren- zen, die ihm auferlegten Grenzen der Gesellschaft, tritt heraus aus der engen Moral und lässt sich von Venedig in seiner ganzen Schönheit und Hässlichkeit, in seiner chaotischen Lebendigkeit, inspirieren und berühren. Er mein- te selbst: Dem „Labyrinth der Stadt“ entspricht „das Labyrinth der Brust“ und weiter: „Gern über- schreit ich die Grenze mit breiter Kreide gezogen”. Und er fängt wieder an zu dichten, seine Ge- fühle aufs Papier zu werfen. Die venezianischen Epigramme ent- stehen, fließen aus ihm heraus, brechen sich Bahn aus lang Ver- krustetem, Angestautem, Ange- spanntem. Und er wagt, im ge- samten Zyklus der Epigramme, die engen Grenzen der Moral und Schicklichkeit der prüden bür- gerlichen Gesellschaft zu spren- gen oder sie sogar aufzuheben, ja auch seine eigenen Grenzen und Maßstäbe zu überwinden. Die Urfassung von 1790, in Ve- nedig geschrieben, ist noch un- verfälscht, radikal, provokant, aufwühlend. Ein weiteres außer- ordentliches Wagnis: Goethe übt Kritik an der katholischen Kirche und am Christentum überhaupt, eine radikale Position, die ihres- gleichen sucht. Dieser Text ist ei- ner von mehreren, die die christ- liche Askese als demütigend, krank und unmenschlich entlar- ven und ihr als Ideal antike Sinn- lichkeit, Erotik und sexuelle Er- füllung entgegenstellen, somit vor allem auch in erotischer Hin- sicht die gewohnten Grenzen überschreitet und mit sexueller Direktheit Provozierendes wagt. Immer wieder hebt er die Kör- perlichkeit in ihrer erfüllenden Vitalität hervor. Nicht mit leeren Händen durch Füssen Mit weit über hundert Venezia- nischen Epigrammen im Gepäck und durch den Fund eines Tier- schädels auf einem Judenfriedhof in Italien einen Schritt weiter hin zur Urform der Tiergestalt, pas- sierte Goethe auch auf der Rück- reise die Stadttore Füssens. Seine Stimmung hat sich geändert, ist angereichert und inspiriert, aus- gebrochen aus engen Schalen, aber die Sehnsucht nach Zuhause ist die gleiche geblieben. Auch diesmal hatte er wieder keine Zeit zumVerweilen. Die Hofdame der Herzogin, Luise von Göch- hausen, berichtet in ihrem Rei- setagebuch, dass die Postkutsche nach der Mittagspause in Reutte mit der illustren Gesellschaft durch Füssen kam und Goethe nach einem Verdauungsspazier- gang einholte. Dieser hielt aber erst wieder in Kaufbeuren, wo er am 8. Juni 1790 übernachtete. Die Hofdame Luise von Göch- hausen vermerkte weiter: „…, wo sich bei Tisch ein „dummer ge- schwätziger Wirt“ zu ihm gesellte, sehr zumMissvergnügen der Gäs- te.” Diese Hofdame, so unschein- bar sie war, erwarb sich ihren Nachruhm mit einer im Grunde kleinen Tat: Sie hatte sich Goethes erste Fassung des „Faust“ aus- geliehen und vollständig abge- schrieben. Ausgerechnet diese Fassung war es, die als Einzige die Zeiten überlebte. 1887 wurde das Konvolut bei ihrem Großnef- fen Friedrich Bruno von Göch- hausen wiederentdeckt und noch im selben Jahr veröffentlicht. Seit- her besitzen wir den „Urfaust“, Fortsetzung von 31

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