Füssener Heimatzeitung Nr. 191

106 Füssener Heimatzeitung Nr. 191 vom Juni 2020 / II Königslinde Natürlich konnte Marcus Span- genberg in seinem Vortrag nicht auf alle Planungen und Bauten Ludwigs im Graswangtal einge- hen. Exemplarisch griff er die Kö- nigslinde, den Maurischen Kiosk und die Einsiedelei des Gurne- manz heraus. Es ist ein weit ver- breiteter Irrtum, Schloss Linderhof sei nach der Königslinde benannt. Obwohl die Königslinde im Leben Ludwigs eine bedeutende Rolle spielte, geht der Name Linderhof auf den Familiennamen Linder (eine ortsansässige Familie) zu- rück. Seit rund drei Jahrhunderten trotzt die Königslinde allen Ver- änderungen, die um sie herum geschehen sind. Für Ludwig war diese Linde mehr als nur ein alt- ehrwürdiger Baum. Der König richtete sich die Linde als Ort zum Speisen, Lesen und Beob- achten ein. In zwölf Metern Höhe ließ er 1874 eine Plattform er- richten, zu der eine einfache, mit in die Natur hinein zu kompo- nieren. Das, was Richard Wagner in seiner Musik erschafft, ver- wirklicht König Ludwig II. in seinen Bauwerken. Diese Inszenierungen machen Ludwig II. selbst zum Künstler. Ludwig II. stellt zwei Themen in denMittelpunkt seines Lebenswerkes: Reinheit und Kö- nigtum von Gottes Gnaden. In einer unendlichen Vielfalt bear- beitet der Monarch diese Werte und misst sich daran. Er ringt um Vervollkommnung, schöpft, ver- bessert und verwirft unablässig. Ludwig II. war nicht bereit, ein Handlanger des Volkes und der Minister zu sein. Er tat einfach nicht das, was die Öffentlichkeit von ihm erwartete. Stattdessen sah er sich einer göttlichen Be- rufung verpflichtet. So war der Rückzug von Ludwig aus der Hauptstadt ins Gebirge und seine Bautätigkeit eine konsequente Antwort auf Bürokratie und See- Fortsetzung von Seite 105 lenlosigkeit. In seinen Bauten konnte sich Ludwig als König be- stätigen, selbst wenn er die Ver- pflichtung seiner normalen Amts- geschäfte zeitlebens gewissen- haft erfüllte. In seinen Bauten holt Ludwig II. die Weltgeschichte zu sich ins Graswangtal. Die Fran- zösischen Könige, Byzanz, den Orient und das ferne China. Un- zählige Bücher wurden gewälzt, Kundschafter wurden in alleWind- richtungen ausgesandt. Diese mussten Reiseberichte, Me- moiren, Bilder, Romane, Grafiken und Fotographien zusammentra- gen, damit Stück für Stück das Bild vollkommen wurde. Wir wis- sen nicht, was wir alles im Gras- wangtal bewundern könnten, hät- te Ludwig II. länger gelebt. The- men der deutschen Heldensagen, den Zauber des Orients, die Kultur der Kaiser von China? Allein schon das Vorhandene spannt einen facettenreichen Bilderbogen.  Planung für einen Chinesischen Palast. Bild: Elisabeth Wintergerst

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