Füssener Heimatzeitung Nr. 186

171 Füssener Heimatzeitung Nr. 186 vom Februar 2020 unschuldige Lust zu feiern, ein wenig aus den Konventionen aus- zubrechen, für einen Abend ein ganz anderer oder vielleicht sogar genau der zu sein, der man ei- gentlich ist und niemals die Frei- heit hatte sein zu dürfen. Gründe, ein wenig Verkleidung und eine kleine Musikkapelle, war schon für genügend gute Laune und Freude gesorgt. Ungestüm und wild Beobachtet wurde die eingangs beschriebene Prügelei zwischen den alten Rußländlern und den amerikanischen Soldaten von den restlichen Bewohnern des Rußländles, denen sie heute, siebzig Jahre später, noch bestens in Erinnerung ist. Einer davon ist Hans Sittenauer, der immer noch stolz auf seinen starken Vater und dessen Stammtischbrüder ist. „Das Rußländle war einfach einmalig”, schwärmt er von seiner Kindheit und Jugend, die er in diesem besonderen Stadtviertel verbringen durfte. Dort lebte eine eingeschworene Gemeinschaft sämtlicher Gesellschaftsschich- ten, die zu jedem Zeitpunkt zu- sammenhielt. Zog ein Rußländler innerhalb des Rußländles um, standen alle Rußländler parat, ummit anzupacken. Wurde beim Schweiger Holz gesägt, rannten alle Rußländle-Kinder mit Holz- kisten, um das geschnittene Holz in die Häuser zu bringen. Mußte ein Rußländler in den Krieg, bang- ten alle Rußländler, bis er endlich wieder daheim ankam. Und fei- erten die Rußländler Fasching, dann feierten sie auch Fasching - und das unvergleichlich zu allen anderen Stadtvierteln in Füssen. Der Faschingsumzug war größer als die Umzüge von großen Ort- schaften, ganz zu schweigen von der ungestümen wilden Fa- schingsstimmung, mit der die Rußländler ganz Füssen ansteck- ten und im Laufe der Zeit so manch andere Faschingshoch- burg aus dem Boden sprießen ließ. ■ Fortsetzung von Seite 169 Fasching zu feiern gibt es genug. Was den heutigen Fasching vom damaligen unterscheidet, ist wohl das unersättliche Verlangen, ul- timative Erlebnis- und Gefühls- qualitäten zu empfinden. Die heutigen Menschen sind gera- dezu getrieben, in allen Lebens- bereichen solchen Zuständen hinterherzujagen, wo es nicht mehr um ein gemeinsames Erle- ben einer zwischenmenschlichen Nähe, Freundschaft und Vertraut- heit geht. Und genau jenes stand damals noch im Mittelpunkt der Faschingsbälle. Man war schon glücklich, dass man überhaupt feiern konnte und allein durch  Die Wolga-Schiffer. Auf dem Wagen Franz Fellier als Zar Iwanowitsch, hinter ihm steht eine Flüchtlingsfrau namens Poldi, die damals im Gasthof Franzsikaner bei der Familie Lotter gearbeitet hat, rechts sitzt Theresia Schweiger vom Birabäck aus dem Rußländle. Bild: privat

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