Füssener Heimatzeitung Nr. 182

19 Füssener Heimatzeitung Nr. 182 vom Dezember 2019 im Leben einer Frau ist, wenn sie Ihr Neugeborenes zu sich nimmt, es ganz bei sich spürt, die ersten Töne von ihm hört, die kleinen Händchen auf sich spürt, war Anny nicht gegönnt. Ihr kleiner Junge hatte einen offenen Rücken und Verwachsungen am Kehlkopf. Beidem konnte die Medizin da- mals noch nicht abhelfen und so begannen Tage des Bangens, ob sich alles zum Guten wenden und der Kleine die Kraft haben würde, zu überleben. Anny hielt ihn Tag und Nacht in ihren Armen, sie betete Stunde um Stunde, damit ihr das Liebste in ihrem Leben nicht genommen wird, während es draußen schneite und schneite. Und gleichwohl wurde ihr gewahr, dass ihr auch in diesemMoment nichts anderes blieb, als sich ganz und gar hin- zugeben, anzunehmen, was das Schicksal für sie und ihren klei- nen, geliebten Jungen geschehen lassen würde. Es blieb nur die Demut Tag für Tag wurde der kleine Ru- dolf leiser und schwächer, er konnte kaum Nahrung zu sich nehmen und auch das Atmen fiel ihm schwer. Tränen der unendli- chen Trauer ob des Unausweich- lichen flossen über die Wangen von Anny. Und wieder musste sie in aller Demut annehmen, dass ihr Lebensweg ihr nicht ein- mal den Verlust des eigenen Kin- des ersparen wollte. Sie lag mit ihrem kleinen Jungen im Bett, umhüllte ihn warm und während draußen Weihnachtslieder, fröh- liche Stimmen von feierndenMen- schen und die Glocken von fah- renden Schlitten zu hören waren, verschied in aller Stille und tiefem Frieden ihr liebster, kleiner Sohn eine Woche nach seiner Geburt Info-Kasten Anny Wankmiller, geb. Walter : geboren 29. Januar 1908, gestorben 5. Februar 1984 in Füssen Erstes Kind Rudolf Walter : geboren 17. Dezember 1926 in Tübingen, gestorben 24. Dezember 1926 in Tübingen Enkel Wolfgang Wankmiller : geboren 15. März 1957 in Füssen, gestorben 6. Januar 2019 am Weihnachtsabend des 24. Dezember 1926. Der Schmerz wurde nie weniger „Jetzt kannst Du vielleicht ein bisschen verstehen, warum ich an Weihnachten immer so traurig bin”, erklärte sie ihrem Enkel Wolfi, dessen zweiter Vorname Rudolf war. „Es ist, als würde an jedemWeihnachten mein kleiner Rudolf aufs Neue von mir gehen. Es tut mir immer noch genauso weh, wie im ersten Moment, als sein zartes Lebenslicht erloschen ist. Zum Glück habe ich Dich, Du bist mein größter Trost.” Lautloses Paradies Der Enkel blieb seiner Oma zeit- lebens treu und verbunden, weit über ihren Tod hinaus. Stetige Dankbarkeit und innige Liebe empfand er für sie und all das, was sie in ihrer Armut und Be- scheidenheit für ihn getan hatte. Als er sich Jahrzehnte später sel- ber auf den Weg in eine andere Welt machte und die Schicksals- göttinnen ihn riefen, war es auch in der Weihnachtszeit, als er da- hinschied. Seine letzten Blicke schenkte er der verschneiten Landschaft, in die auch seine Großmutter so oft geblickt hatte, und die von lautlosen Schnee- flocken in ein märchenhaftes Pa- radies verwandelt wurde. ■

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